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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2016-04-22
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Die Geschichte der Bäume / Herr Brãtianu
Wenn der Frühling kam, wurde im Rahova-Viertel nichts dem Zufall überlassen. Natürlich, er kam, wann er wollte. Mutter hatte wie die Jahreszeiten einen Rhythmus. Der Frühling kam, als der Inhalt des Krautfasses zur Neige ging, wenn die Katzen nicht mehr ins Haus wollten, neben dem Zaun die Schneeglöckchen ihre Aufwartung machten und die Hennen sich auf den Eiern auszubreiten begannen. Der Frühling kam, als die Bäume erwachten, die Nachbarn und besonders die Schanzen, und nicht wenn der Kalender ihn anzeigte. Dann öffnete sich das Tor leichter, der Frost kämpfte nicht mehr mit Schlüsseln und Scharnieren, und der Weg verkürzte sich von einer Haltestelle zur anderen. Die Eiszapfen, ja, jetzt werden sie uns auf dem Heimweg fehlen. Oder gibt es ein Kind, das keine Eiszapfen gegessen hat?! Nach der Schule veranstalteten wir wahre Wettbewerbe im Eiszapfenbrechen: Wer springt höher oder wer erwischt den größten und kann ihn dann auch noch verkauen … Am spannendsten war das Ãœberqueren der Izvor-Brücke neben dem Bulandra-Theater zu einer Buchhandlung an der gegenüberliegenden Ecke, wo Herr Apreotesei mit seiner viel jüngeren und sympathischen Frau uns mit Keksen und Büchern aus vielen Sammlungen anlockte. Die Geschichte der ägyptischen Kultur, eine Ãœbersetzung aus dem Französischen, habe ich auch jetzt noch. Warum Mutter mir damals 100 Lei gab und wozu die mir dienten, weiß ich nicht, aber die Geschichte fesselte mich, ich habe sie viele Sommertage lang auf der Liegecouch, ein nach abgestandenem Regenwasser riechendes Erinnerungsstück von Tante Käthe, abgenützt. Dort bildeten die Wetterdächer der höheren Häuser die größten Eiszapfen. Sie hingen auch weiter oben auf der Uranus-Straße, wo die Tramway sich auf eine Seite neigte und müde auf dem Chirigiu-Platz anhielt. Der Tramwayfahrer hielt sich wie ein Atlas am Steuergriff, eine Art Bügel, fest, drückte dann die Kurbel wie ein Gefreiter im Krieg nach unten und entschied, die Weiche wechselnd, welche Richtung die Tramway einschlagen wird. Die ganze Zeit fluchte er durch die Zähne, sich vieler Substantive aus dem Familienwortschatz bedienend, er spuckte und gelobte, dass er eines Tages: „Schau so, werde ich den überfahren!“ Von der Uranus-Haltestelle ging ich allein weiter. Die letzten Kollegen von der deutschen Schule (Lyzeum Nr. 21) stiegen hier aus. Weiter lag mir nichts mehr an Eiszapfen oder anderen Spielen. So viel von den Nächten mit Zahnschmerzen, verursacht von dem Zerkauen der Eiszapfen oder von dem am meisten von allen gegessenen Eis im winterlichen CiÈ™migiu. Ich will mich gar nicht daran erinnern, denn sie rufen keine Nostalgie bei mir hervor, diese Zahnarztkabinette. Vielleicht werden sie Eingang in ein anderes Vergangenheitskapitel mit gewollten und ungewollten Schmerzen und mit die Zähne strapazierenden Nougatstangen finden. Im Frühling kamen die Iltisse mit den Feldmäusen im Gefolge aus ihren Löchern und Mihăiță und ich zählten sie. Mutter war nicht glücklich. Sie kaufte verschiedene mechanische Fallen. Nur einmal erwischte es einen Iltis, den sie als Abschreckung auf ein Brett nagelte, ein Zeichen des wahren Krieges gegen Nagetiere jedweder Art, direkt vor dem Haus. Die Nachbarn gingen, erschrocken über Mutters Courage, vorbei. Als hätte sie ihn im Nahkampf erledigt. So aufgehängt, sah er aus wie ein billiges Fell, das niemand mehr einschüchterte. Die aufgebrachten Nachbarn schienen die Verwüstungen unter den Hühnern und den ein Tag alten Kücken vergessen zu haben. Die von so viel Lärm neugierig aus den Häusern gekommenen Katzen standen wie die auf den Sockeln in Ägypten, starr vor Staunen: Wie kam es, dass ihr Feind tatsächlich am helllichten Tag an einem Pfosten hing? Der Frühling war keine Befreiung von Mühsal, sondern eine Änderung im Allgemeinen. Die Bäume mussten geschnitten werden, mit Kalk geweißt, man ging nach Băneasa, dort kauften wir eine Art Aspirin für Bäume, um sie widerstandsfähig gegen die Würmer und Schmetterlinge zu machen, die sich gerade darauf vorbereiteten, in ihnen zu nisten. Mutter hatte allerlei Rezepte, gute, aber teure. Sie sparte nicht einmal an den für schweres Geld aus Holland gebrachten Tulpenknollen, auch nicht an Veredelungen oder Anleitungen, um ihren Traumgarten mit einer kleinen Blume zu verzieren, einzigartig im Stadtteil. Als sie dann in Deutschland wohnen sollte, im Block, erzählte sie ihren Nachbarinnen auf dem Treppenabsatz, wie sie den Frühling oder Herbst machte. Die Damen, alle mit gleichen Dauerwellen, Batiktüchern und orthopädischen Sandalen, die du nicht voneinander unterscheiden konntest, schauten Mutter verblüfft an wie damals die ägyptischen Katzen den Iltis am Pfosten. Manchmal hatte Mutter keine Luft und Kraft mehr zum Erzählen. Sich am Treppengelände festhaltend, sagte Frau Scheid, die Nachbarin, bis heute nicht bereit, ihrer Tochter nur einen Pfennig Erbschaft zu hinterlassen, und jeden zweiten Tag zum Coiffeur gehend, um das kleine Vermögen auch ausgeben zu können, spitz und vorwurfsvoll: - Ich kann nicht glauben, dass Sie ein Lebewesen, einen Iltis, ein so friedliches Tier ermordet haben … Die Reaktion der Nachbarin ließ klar erkennen, dass sie eigentlich die Bestimmung eines Iltis nicht kannte oder die Leiden, die sein Aufkreuzen in einer Gartenwirtschaft verursachen. In ihrer Atemnot ungeduldig nach Luft schnappend, traute Mutter sich, sie zu fragen: - Aber wissen Sie überhaupt, was ein Iltis anrichtet … unsere Kücken, die Hühner, wahrhaftig Krieg … Der Nachbarin mit dem Gehstock, Dame ohne Alter, die ein Leben lang in einem Büro gearbeitet hat, mit sicherem Gehalt und Rente, wäre es nie eingefallen, das Schicksal der Kücken zu beweinen oder sich einen Iltis vorzustellen … Das Leben der Tiere spielte sich für diese Menschen irgendwo im Tiergarten ab, in Büchern mit perfekten Fotos oder in Dokumentarfilmen am Fernseher. Die meisten Rezepte hatte Mutter von Herr Brătianu. Er lebte in einem riesengroßen Haus, von uns eine Haltestelle weiter, in der Nähe des Brotladens, in dem die ewige Frau Ghenea, ein vom Schicksal vorbestimmter Name, wir nannten sie Ghionoaia*, jahrzehntelang die Vogelscheuche des Viertels war, mit einer Stimme, die bei jedem Eugenia*, das wir uns mit Fünf-Bani-Münzen kauften, wie von einem großen Brotmesser zweigeteilt klang. Hinter einem Garten, wo ich die ersten wirklichen Tannen sah, nicht wie die zu Feiertagen gekauften dünnen und schiefen, die damals selbstverständlich auch noch Väterchen Frost brachte, erstreckte sich das Haus Brătianu bis in ein dichter als die Zufahrt bewachsenes Tal . Dieser Herr Brătianu war kein gewöhnlicher Gärtner. Er studierte vor dem Zweiten Weltkrieg in Österreich. Baumveredlung war für ihn eine wahre Form der Transzendenz. Und sogar die Früchte, die mit vorangegangener Verzauberung mit Tinktur und Aromen auf Ästen und Zweigen reiften, schienen wie aus einer anderen Welt. Ein langsamer Mensch, hochaufgeschossen, mit ausnehmendem Schritt, zu jeder Stunde in weißem Hemd und einer Art Lodenmantel sowie mit Filzhut, ein österreichisches Ãœberbleibsel: - Geh zu Brătianu, die Quitte blüht noch nicht! Ich lief froh durch die Tannenallee, um den großen Hofbesitzer beim Zusammenräumen der Scheren, Drähte und mit allem Notwendigen zur Baumpflege gefüllten Tüten zu sehen. Es herrschte eine Apothekenordnung in dem Geschäft, in dem Herr Brătianu in Ruhe an den sogenannten Medikamenten herumhantierte. Wo mögen sie nur hin verschwunden sein? Kann es sein, dass der Mensch, der sie entwendet hat, den Sinn der Benennungen auf den Schachtelchen verstanden hat? Herr Brătianu kam, bandagierte die Bäume, strich sie mit den Inhalten seiner Fläschchen an und in wenigen Tagen hatte der Quittenbaum keine Wachstumsbedenken mehr. Pfirsiche wie unsere, veredelt nach den Kunststücken à la Brătianu, habe ich weltweit nie gesehen. Groß, zu groß sage ich mir jetzt, schmackhaft, sogar zu aromatisch. Wie und mit was er sie veredelt hat, weiß ich nicht, die Bäume sind aber nach etwa fünf Jahren eingegangen und haben sich auch nicht mehr erholt. Aber solange sie aufrecht standen, waren sie ein Blickfang, viel zu zierliche Bäumchen für zu große und extrem süße Früchte. Und wenn du denkst, ohne einen einzigen chemischen Zusatz! Die Leute blieben stehen und wunderten sich, die Kinder trauten sich nicht zu verlangen, denn es hingen nur etwa sechs, sieben an einem Baum, die Äste schmerzhaft hinabziehend. Wenn du eine gegessen hast, blieb sie dir ewig in Erinnerung. Herr Brătianu ist nicht mehr und an dieser Stelle thront wie aus dem Märchen eine Villa in allen Farben. Niemand erinnert sich mehr an ihn, außer einer Rumänischprofessorin und Tante Ioana, die Frau von Vetter Sandu Găuță, der mit der Violine von der „Barriere“. Tante Ioana erinnert sich sogar an vieles, aber bei vorsichtigem, langsamem und wiederholtem Nachfragen. [aus dem Rumänischen von Anton Potche] *Worterklärungen - Ghionoaia = diese Benennung beruht auf einer Lautmalerei, im Rumänischen heißt Gunoi Dreck, Mist; daher Ghionoaia = die Drecksfrau, Mistfrau - Eugenia = ein in Rumänien sehr beliebtes Gebäck aus zwei Teilen und einer Cremefüllung |
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