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Erinnerungsroman von Anni-Lorei Mainka [Almalo ] (1958 - 2014)
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von [Delagiarmata ]

2021-08-13  |   

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Ãœber Sommer und Ferien in Bukarest - Teil 1

Für uns Kinder begannen die Sommer in jenen Jahren genau am 15. Juni. Ein Tag, den ich auch heute noch als große Befreiung empfinde, obwohl der 15. Juni längst ein normaler Tag ist. Niemand beglückwünscht mich mehr, weil ich gelernt habe oder auch nicht, erinnert mich daran, wie viel ich lesen und wie viele Aufzeichnungen ich mir in den Ferien machen muss, um „für das Leben vorbereitet“ zu sein. Jetzt ist dieser Tag ein Datum, an dem das Leben sich über uns Aufzeichnungen macht und uns Hausaufgaben für den ganzen Sommer aufgibt, die wir dann am Jahresende, wenn wieder Ferien sind, vorlegen müssen. Jetzt werden wir aber vor dem Beginn der Winterferien vorstellig beim Finanzamt, bei den Personalchefs, und einige von uns bei der obskuren Arbeitslosenhilfe oder den Banken. Auch sie geben uns Hausaufgaben, einige sogar bis zum 15. Juni nächsten Jahres!

In meiner Kindheit haben die Ferien landesweit am 15. Juni begonnen. Für die Kinder auf dem Lande etwas früher, weil die Mehrheit der Lehrer Pendler waren. Machten sie, was sie machten, aber sie schafften es aufzuhören, um je früher nach Hause zu kommen – oft in andere Landkreise. In Bukarest fuhren die Lehrer nicht weg, und sie dachten gar nicht ans Krankwerden. Einige Lehrerinnen waren ab und zu erkältet oder schwanger. Dann kamen junge Lehrer und wir hatten unseren Spaß beim Abschreiben. Das Schicksal war meiner Generation hold: Die geliebten und geschätzten Lehrer verschwanden erst, nachdem wir das Lyzeum im famosen Erdbebenjahr 1977 absolviert hatten.

Schriftliche Schularbeiten waren ein Kapitel für sich und glichen wahren Scharfsinnigkeitstests, und wenn du eine gute Note bekamst, hattest du den Eindruck „doch etwas im Kopf zu haben“. Fast die ganze Zeit lerntest du, was du eben lerntest, aber wenn du vergessen hattest und nicht abschreiben konntest oder kein gutmeinender Kollege dir einen Einstein an den Kopf warf, hattest du besonders Probleme zuhause, wo sowieso niemand verstehen konnte, warum du bei Chemie oder Physik nicht alles verstanden hast. Und Mathematik sollten wir lieber nicht erwähnen!

Auch heute höre ich die Stimme von Herr Professor* Cristescu und ich glaube, nicht die Einzige zu sein. Er betrat das Klassenzimmer wie ein Sturm, schrie und warf mit Kreide um sich, er gestaltete die Stunden wie ein Orkan und zerriss die Bücher des Schülers, der vor Angst oder Unwissenheit keinen Ton von sich gab, und wenn er beim Verlassen des Raumes die Tür zuschlug, bebten die Fenster des alten und hohen Gebäudes, während die Klasse aussah wie nach einem Tsunami!

Das Glück jener Jahre war das gastfreundliche Gebäude dieser alten Schule, mit einem großen Hof, Bäumen und drüber ein klarer Himmel ohne Wohnblockschatten. Nicht dass ich Professor Cristescu gehasst hätte, nein, er war der Professor-Mensch, der viele Neuigkeiten in mein Leben gebracht hat, war ich doch ein Kind mit viel Freizeit, vielen Reisen und besonders mit einem Leben zwischen den Welten Bukarests, die man in viele, schwer zu benennende Kategorien aufteilen konnte.

Ich habe sie schon einmal irgendwo erwähnt: die mit und die ohne Telefon, die mit und die ohne Auto, die mit zur Hilfe bei den Hausaufgaben fähigen Eltern und die ohne solche Eltern. Letztere kamen dann ab und zu in die Elternsitzungen und schlugen vor Staunen die Hände überm Kopf zusammen oder hielten sich den Mund zu. Sie waren überrascht von den guten Leistungen ihrer Schützlinge oder … weil die sie „lächerlich“ gemacht haben. Ja, vor Jahren, wenn du zum Beispiel eine Zwei bei Mate bekommen hast, hieß es „du machst deinen Vater lächerlich“, als ob alle Väter Gelehrte wären, und erst recht Mathematiker.

Herr Cristescu schrie in seiner Eile, alles zu erklären, glaube ich heute, aber damals hat er mein Leben verändert. Er hat mir ein wenig Mathematik beigebracht, genug um zu überleben, aber in erster Reihe lernte er mich die Angst vor dem Fremden kennen, Pünktlichkeit und das Geradestehen beim Eintreten des Professors. Eines Tages ist mir die Brille heruntergefallen. Ich hatte den Mut, sie aufzuheben, natürlich mit dem Gedanke an Mutter, die ich weiß nicht was getan hätte, wenn sie zerbrochen wäre. Man fand sie nur schwer zum kaufen, so hässlich sie auch waren.

Als ich die Brille aufsetzte, kam Herr Cristescu, fixierte mich und sagte in eine schrecklichen Deutsch: „Ah, Froilein Glas, la Tafel, schauen, warum wie du eine Brille brauch.“

Ich begann heftig zu schwitzen, die Kreide wurde feucht, ich konnte nichts schreiben, blickte durch das Gitterfenster und stellte mir vor, wie ich zum Flug abhebe. Natürlich hat er mir eine 2 gegeben und ließ mich durchfallen, so dass ich mir den ganzen Sommer über wünschte, die Mathematik würde mir in den Kopf eindringen oder ein Erdbeben würde die Schule einstürzen lassen. Ich habe die Nachprüfung wie ein Wunder überstanden und das Erdbeben kam fünf Jahre später, als ich mir überhaupt keinen Einsturz der Schule mehr wünschte. Das Schicksal trägt eben eine andere Uhr als ich.

Unser Chemieprofessor, Herr S., war klein von Wuchs und reichte nicht bis zur Tafel. Man hatte ihm ein Podest angefertigt, aber nicht hoch genug, auf dem der Katheder und die Gott-Professoren thronten, so dass sie größer schienen, wie sie uns allwissend anschauten. Ich erinnere mich an die Biologieprofa*, eine gute Professorin, sie beherrschte den Stoff, hatte einen sehr geordneten Vortrag, und was für uns in den Biostunden gut war, wir wussten, wann wir an die Reihe kamen. Ihr gefiel das aber nicht. Ihre Position dort oben war nicht gut, man sah den Rand ihrer Perücke, die sie anscheinend drückte und sie abzulenken schien, als sie die verschiedensten Skelette und Bakterien erklärte; für sie sehr wichtig, auch wenn ich nie einer „Amöbe“ begegnet bin und es mir nie in zwischenmenschlichen Beziehungen geholfen hat, zu wissen, was „anaerob“ bedeutet.



[aus dem Rumänischen von Anton Potche]


*Worterklärungen
- Professor = In Rumänien tragen alle Lehrer der weiterführenden Schulen (Lyzeen & Berufsschulen) die Berufsbezeichnung „Professor“.
- Profa = Abkürzung für Professorin

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