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■ Eine Krone von Veilchen
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- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 2012-01-05
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In meiner Jugendzeit besuchte ich drei Lyzeen. In der Zehnten kam ich ins Lazãr-Lyzeum, in die Mathematik-Klasse, wo Schüler aus mehreren Bukarester Schulen eingeschrieben waren. Dort habe ich viele jüdische Kollegen getroffen, die meisten mit rumänischen Namen, aber das Thema Judentum wurde nicht diskutiert. Ich vermute, dass sie von zu Hause denselben Druck bekommen hatten, von den Eltern, sich mehr als andere zu bemühen.
Ich wiederum fühlte mich zur Literatur hingezogen, zum Theater, nahm an Rezitationen aus Sorescu, Baudelaire, Prevert teil. Obwohl ich mich ziemlich gut durchschlug und gute Professoren* hatte, begeisterte die Mathematik mich nicht, und ich verließ nach nur einem Jahr die Spezialklasse. Einige jüdische Freunde aus der Allgemeinschule waren schon nach Israel oder in andere Länder gezogen. Meine Familie bekam, obwohl sie mit Gesuchen und Memoiren insistierte, wiederholt Absagen. Mir war klar, dass wir in Rumänien bleiben werden. Eigentlich wünschte ich mir genau das. Ich dachte mit Grauen daran, dass ich, nach Israel auswandernd, auf die rumänische Sprache verzichten müsste, auf die Literatur, die ich verschlang, um eine andere Sprache zu sprechen, mir eine andere, asiatische, Kultur anzueignen, fern von Europa, in einer sandigen Gegend und, nach meiner Vorstellung, in einer geistigen Wüste. Ich war mit allen Fasern meines Wesens der rumänischen Kultur zugetan, verehrte die Sprache Minulescus*, delektierte mich mit ROMÂNIA LITERARĂ*, träumte von einer Schauspieler- oder Regisseurkarriere, versäumte keine Premiere, sog durstig alle Lyrik- und Prosabücher ein, die zum Ende der 60er Jahre die Bukarester Buchhandlungen überschwemmten. Die Bibliothek in unserem Appartement war überfüllt, aber ich lieh mir Bücher aus der Bibliothek des Viertels aus, kaufte SECOLUL 20* und las alles, was mir in die Hände fiel. Die größte Genugtuung empfand ich aber bei den Treffen mit den an Literatur interessierten Kollegen oder bei der Teilnahme an Kulturkreisen. Gleichzeitig hatte ich mich beim Laientheater des Kulturhauses Petöfi Sándor eingeschrieben, wo der Schauspieler Constantin Dinescu vom Kleinen Theater „Mutter“ von Karel Capek inszenierte. Bei der zweiten Probelesung fragte der Regisseur: „Sind Juden unter euch, damit ich weiß welche Witze ich machen kann?“ Ich habe nicht geantwortet und die Amateurtruppe ohne Erklärung verlassen. Nicht weit von mir war das Theater der Armee und ich startete einen neuen Versuch, aufgenommen zu werden. Schon am ersten Tag vernahm ich ein Flüstern über den Juden Solomon. Dabei fühlte ich mich doch so Rumäne! Suchte ich vielleicht unbewusst mit der Kerze nach allem, was mit dem Judentum zu tun hatte und nach dem, was ich eigentlich gar nicht sein wollte? Und warum schwangen in mir ungeahnte Saiten bei den Stücken von Mihail Sebastian oder Max Frisch? Nur weil ich von meinem Vater erfahren hatte, dass sie Juden waren? Adlernase mit Sommersprossen In dieser Zeit hörte ich immer den Ausdruck „nationale Minderheit“. Bald begann ich zu realisieren, dass ich, ganz gleich welche Anstrengungen ich unternehmen würde, wie laut ich „Hora Unirii“* auch singen würde, ein Nachkomme Roms wohl nie werde. Ich erinnere mich an die Jahre slawischen Einflusses, dann des Lateins der Sprache oder an „wir Rumänen stammen von Decebal* ab“. Also war auch das rumänische Volk eine Mischung von Ethnien und die rumänische Sprache ein Strom, in den Flüsse aus verschiedenen Richtungen mündeten. Warum wollte ich dann von meinem Umfeld als Rumäne anerkannt werden? Ich beobachtete meine jüdischen Kollegen, als könnte man ihre Abstammung von der Statur ablesen. Ich versuchte ihre Hakennase, das sommersprossenüberzogene Gesicht, die fleischigen Lippen, den krummen Buckel zu erkennen. Und die Namen waren so volksfremd. Wie schön klangen Eliade, Codreanu, Goga, Barbu, Păunescu, als trügen sie eine Dosis Stolz in sich, während Weiss, Meirovici, Friedmann, Moscovici eine schrille Note abgaben, an den Markt erinnernd, tolerierte und verdrehte Namen. Nationale Minderheit… was verbargen diese zwei Wörter? Ich glaube, noch im Lyzeum gewesen zu sein, als ein Kollege aus der letzten Bank Ärger verursachte. „Ijak, steh auf“, donnerte der Musiklehrer. „Bist du Ungare, Ijak? Wenn ich dich jetzt ungarisch packe, wirst du nicht mehr wissen, wie du aus dem Hemd schlüpfst! Und welch ein heller Kopf dieser Musiklehrer doch war! Wirklich ein Herr mit Manieren. Was ihn wohl dazu bewogen hatte, seine ungarische Herkunft zu erwähnen? Ein anderer Professor, der Mathematik, streng, aber sehr intelligent, hat in die Klasse gefragt: „Sind Zigeuner hier?“ Ich habe es auch heute vor Augen, wie Dincă sich verloren erhob. „Ah, dieser Dunkle ist kein Zigeuner, er ist einer von unseren Rumänen“, versuchte er es dann zurechtzubiegen… Also waren nicht nur die Juden Minderheiten. Aber in dem Wort „Boanghen“* schwang nicht soviel Hass mit, als ich aus „Jude“ vernahm. In der Klasse war neben buckligen Juden auch ein hochaufgeschossener mit geradem Rücken. Eigentlich war nur Horias Vater Jude, die Mutter war Rumänin, und er ging stolz, so als würde er sich nicht fürchten, der Platzhalter für andere zu sein. Ich hatte mich mit Horia befreundet, aber eine Zurechtweisung von ihm klingt mir heute noch in den Ohren. Wir hatten im Fach Weltgeschichte von Palästina gelernt. Ich hatte diese Schulaufgabe einige Male gelesen und als Fragen gestellt wurden, hob ich automatisch die Hand zur Antwort, so als täte ich es mir selbst zum Trotz. Es handelte sich um König Solomon, mein Namensvetter. Für Ungereimtheiten war kein Platz mehr. Palästina war mein Abstammungsland, von wo ich nach 2000 Jahren via Italien, Österreich und Polen über verschlungene Wege nach Bukarest gelangte. Nach der Stunde fuhr Horia mich an: „Warum hast du dich vorgedrängt, über Palästina zu reden? Du warst wie der kleine Jude, der nach Anerkennung heischt! Zu Recht heißt es, die Juden nach Palästina!“ „Die Juden nach Palästina!“ Diese Parole hatte ich schon öfter gehört, aber warum bekam meine Familie keine Ausreisegenehmigung, wenn mein Platz dort war? Damals hörte ich zum ersten Mal den Namen Jakober. Das war ein englischer Jude, der sich im „Handel mit Juden“ gut auskannte. Ich habe erfahren, dass für exorbitante Summen, von Verwandten im Ausland bezahlt, Auswanderungen nach Israel, aber nicht nur, möglich waren. Israel „kaufte Juden“ über geheime diplomatische Wege. Man flüsterte im Haus über eine eventuelle Kontaktierung Jakobers. Diese Begegnung hat nie stattgefunden, aber meine Familie fiel einer Gaunerei zum Opfer. Eine Schauspielerin vom Nationaltheater, Nora Şerban, behauptete, sie würde nahe Beziehungen zu einem Oberst vom Passamt pflegen, der für viel Geld die Ausreise ermöglichen könnte. Unsere Familie hat ihre Ersparnisse geopfert und auch andere Verwandte involviert, die schon die Ausreiseunterlagen eingereicht hatten. Aber es war schon zu spät, als sie bemerkten, dass alles nur eine Farce war. Gleich, aber anders Mir wurde nicht klar, dass mein Verweilen in Rumänien zeitlich begrenzt war. Ich glaube, mir im Unterbewusstsein gewünscht zu haben, dass meine Eltern auf ihre Ausreiseambitionen ans Mittelmeer verzichten sollten. Es stimmt, ich hörte oft das Wort „Jude”, aber nicht unbedingt auf meine Person bezogen. In meinen Lyzeumsjahren führten meine Eltern mit mir einige ernste Gespräche, die sich auf die Ethnie und ihre Ausreise bezogen. Man erzählte mir von Antisemitismus und ein wenig vom Holocaust, von den Pogromen in Dorohoi und Jassy, von den Legionären*. Diese Sachen lernte ich nicht in der Schule. Warum verschwieg man sie? Sie beschädigten den „kommunistischen Geist”, in dem wir auf Wunsch des Staates erzogen werden sollten, überhaupt nicht, das Land blühte auf, der Sozialismus wurde aufgebaut. Warum sollten wir nicht erfahren, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist? Rumänien hat doch „die Waffen umgedreht”. Das Volk hat die Allianz mit dem nazistischen Deutschland aufgekündigt. Die relative Wahrheit über die ermordeten und deportierten Juden zu enthüllen, wäre die normalste Sache für ein kommunistisches Regime unter Gheorghiu-Dej oder Ceauşescu gewesen, das doch auf Gleichheit beruhte und die Juden nicht als nationale Minderheit verfolgte. Neben der Literatur gehörte in jenen Jahren eine andere meiner Passionen dem Sport. Obwohl mir Fußball, Leichtathletik und Basketball gefielen, kam ich in einer Volleyballmannschaft des Sportclubs zum Einsatz. Ich war ziemlich gut, hatte aber ein Problem mit dem Duschen nach den Spielen - gemeinsam mit meinen Mannschaftskollegen. Zum Unterschied von ihnen war ich beschnitten. Nicht alle Juden meines Alters waren das, denn das Beschneiden wurde als heidnische Tradition angesehen, eine religiöse Reminiszenz, die angeblich die Juden von den anderen unterschied. Und viele Juden wollten nach dem Krieg, der ihnen Leid und Malträtierungen gebracht hatte, so sein wie andere, weit weg vom Judentum, von der Tradition, wollten ihre Zöglinge als Gleiche unter Gleichen erziehen. Mein Vater, geblendet von der kommunistischen Ideologie, lehnte sich gegen meine Beschneidung auf, trotz des Drängens seitens der Großeltern und der Mutter. Er wollte mir keine „Invalidität“ aufbürden, die mich psychisch belasten könnte. Die Beschneidung wird bei den Juden am siebten Tag nach der Geburt vorgenommen, so keine medizinischen Komplikationen auftauchen. Das ist ein „Abkommen“ mit „Dem da oben“, aber mein Vater, obwohl er aus einer religiösen Familie stammt, hatte jedwede Beziehung zu Gott abgebrochen. Er ging davon aus, dass bei einer Existenz des Allmächtigen, dieser den schrecklichen Holocaust nie zugelassen hätte. Also müsse sein Sohn in der neuen Gesellschaft als Rumäne unter Rumänen aufwachsen. Aber wer könnte die Schlauheit meiner Großmutter überbieten? Es war ihr gelungen 13 Familienangehörige in Transnistrien zu retten, indem sie sich als große Kartenlegerin ausgab, „Zauberin“, und den rumänischen Soldaten, die ihre Prophezeiungen fürchteten, Blödsinn erzählte,. In meinem zweiten Lebensjahr entführte sie mich nach Dorohoi, wo ein Kusine von ihr, Chirurg, den delikaten Eingriff vornahm. Also war ich beschnitten, war anders als mein Umfeld, was mich dazu veranlasste, meine Nacktheit vor den Mannschaftskollegen zu verbergen. Ich suchte nach Möglichkeiten, das Duschen zu verzögern und ging hinein, als die anderen sich zum Weggehen fertig machten. Nicht selten ging ich ungewaschen nach Hause, die Eile oder bescheidene Hygiene in den Umkleideräumen vorschiebend. Aber eines Tages, nach einem schweren Spiel, in dem ich der Beste war, spürte ich, dass ich mit den anderen unter die Dusche gehen könnte, ohne Scham, bewies ich doch, dass ich ihnen um nichts unterlegen war, dass ich ein Sieger war. Ich wurde mit Überraschung von den Kollegen betrachtet, ich war „anders“, vernahm aber keine Bemerkung. Konfus und antisemitisch In der Pubertät begannen die Hormone Verrückt zu spielen, „ich lief den Mädchen nach“. Ungefähr mit Zwölf machte ich schon einer schönen Kollegin (Ah, Lory!) den Hof, sie hänselnd. Kürzlich habe ich sie, die in den vereinigten Staaten lebt, virtuell wiedergetroffen. Interessant ist, dass wir uns beide an ein frühes Erlebnis erinnerten, als zum Beginn des Schuljahres Journalisten von SCÂNTEIA TINERETULUI kamen, die besten Pioniere zu fotografieren. Damals war ich der Klassenprimus, aber sie wurde vorgezogen, nachdem ich meinen Namen genannt hatte und man erfuhr, dass ich Ärztesohn bin. Vielleicht war ich wirklich nicht ausreichend fotogen und es spielte nicht unbedingt der Name eine Rolle, aber... Obwohl aus dem Gesellschaftskreis meiner Eltern Juden mit feschen Töchtern nicht fehlten, regte ihre Anwesenheit mich nicht an. Ich suchte Mädchen mit einheimischen Namen und, obwohl ich zwei sehr liebreizende und anziehende Jüdinnen kennenlernte, lehnte ich eine zu „intime“ Beziehung ab. Ich baute diese Freundschaften nicht aus, sondern wollte eine rumänische „Gagică“* haben, mit Stupsnäschen, tiefschwarzem Haar wie die Rabenfeder, schönem und hartherzigem Marmorteint und kerzengeradem Rücken, aber keine Rothaarige mit Kraushaar und Sommersprossen, keine Jüdin mit einer Habichtnase. Ich konnte nachvollziehen, dass ich eine Beute der antisemitischen Stereotypie geworden war, die der jüdischen Physiognomie anhing, dass ich allergisch gegen meine eigene Ethnie geworden war. Manchmal zog ich mich traurig in den Cişmigiu* meiner Kindheit zurück und fragte mich, ob ich nicht selbst Antisemit werde. Ich verweigerte mir die Antwort, betrog mich selbst, dass dies mein Gusto wäre, mein Mädchentypus, unabhängig von der Herkunft. Aber ich wusste auch, dass jede Jüdin mir von den Zusammenkünften in der Gemeinschaft erzählen und dabei auf meine Ablehnung prallen würde. Das wäre dann unsere letzte Begegnung gewesen. Mit 16 gelang es mir, sie genau nach meinen Wünschen zu finden. Sie hatte schwarzes Haar, ihre Augen funkelten, sie war herrlich, Traumkörper, ziemlich bösartig und misstrauisch, aber voller Charme und dazu noch ein großartiger Name: Cristiana Dumitrescu. Was konnte rumänischer sein, romantischer? Die Beziehung hielt ein paar Monate, sie war erst 14 Jahre alt, aber beide erinnern wir uns an die Küsse im Cişmigiu. Cristiana habe ich nach etlichen Jahren zufällig wiedergesehen, in Israel. Ich hatte keine Ahnung, dass sie Jüdin war und Iris Stern hieß. Itzhak und Haim Ich glaube, meine Judenallergie hat ihren ersten Schock bekommen, als mein Vater eines abends bei Radio Kol Israel die Sendung in rumänischer Sprache hörte, es war nach dem Sechstagekrieg (1967), und ich vernahm, dass der Chef der Streitkräfte, Itzhak Rabin, von Haim Bar-Lev abgelöst wurde. Israel, im Land der Juden, Generäle mit den Namen Itzhak und Haim, die gleichen aus den Witzen mit den verängstigten Juden, ja noch mehr, sie haben eine starke Armee angeführt und drei arabische Länder besiegt, in nur sechs Tagen. Vielleicht war es doch meine Bestimmung, nach Palästina zu gelangen, wo das Wort Jude keine negative Bedeutung hatte und ich mich des Minoritätenetiketts entledigen könnte. Am 21. Januar 1970, genau 29 Jahre nach dem Pogrom von Bukarest, flog die Familie Solomon, bestehend aus meinem Vater und meiner Mutter, der Großmutter und dem Kater Gri-Gri (auch Jude durch Adoption), ausgestattet mit Pässen ohne Staatsbürgerschaft, vom Flughafen Bãneasa ab ins gelobte Land. - Fortsetzung folgt – Erläuterungen* Ion Minulescu (1881 - 1944) = rumänischer Schriftsteller des Symbolismus Professoren = in Rumänien tragen Lehrer ab der fünften Klasse die Berufsbezeichnung Professor ROMÂNIA LITERARĂ = Literaturzeitschrift des rumänischen Schriftstellerverbandes SECOLUL 20 = rumänische Kulturzeitschrift Hora Unirii = rumänisches patriotisches Lied, dass die Vereinigung der rumänischen Fürstentümer preist; Text: Vasile Alecsandri (1821 - 1890), Musik: Alexandru Flechtenmacher (1823 - 1898) Decebal = dakischer Stammesfürst boanghen (rum.)= rumänisches Schimpfwort für Ungar (Substantive werden im Rumänischen mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben) Legionäre = Mitglieder einer faschistische Organisation in Rumänien (1927 – 1941) gagică (rum.) = pubertärer Ausdruck für Freundin Cişmigiu = Park in Bukarest [aus dem Rumänischen von Anton Potche] |
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