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(Politische) Kindheitserinnerungen - von Valentin Tascu [valentintascu ] (1944 – 2008) - Folge 7
prose [ ]
Der Todeskanal und der Kanal des Todes, 1954
Compilation: Übersetzungen

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by [Delagiarmata ]

2009-01-09  | [This text should be read in deutsch]  

Literary Translation - Translations of classic and original poetry and other materialsThis text is a follow-up  | 



Das Leben um den Kanal war eigentlich gar nicht so schlecht. Man fand noch das eine oder andere in den Läden, was von den Russen übrig blieb, oder, um irritierende Unterschiede zu vermeiden, das Meer war ... Meer, Ferien am ... Meer drei Monate im Jahr (für Schüler), die „Alten“ unterhielten sich noch bei einer zu Berühmtheit gelangten Kuttelsuppe auf dem Ovidiu-Platz, natürlich nach den bis in die Morgenstunden anhaltenden Arbeitergelagen. Klar, ich hatte den Zynismus nicht erfasst: Ich erinnere mich an einen Ball in der Kantine von Poarta Albă* mit Gebratenem, reichlich Getränken und Kuchen. Ich, natürlich auch dort, zwischen den Beinen der Tänzer, wie ich es schon gewöhnt war, weil sie niemand hatten, bei dem sie mich lassen konnten. Die Großeltern väterlicherseits waren seit 1930/31 tot und die seitens der Mutter lebten gerade mal in Cluj. Mutter hatte es mit den Liedern und Vater streichelte sich den Schnurrbart vor Stolz, wie man ihr den Hof machte, glaubte doch die ganze Welt, dass bei dem Altersunterschied zwischen den Beiden, 22 Jahre, man ja annehmen könnte...

Die Erwachsenen „machten auf Bier, machten auf Wein“ und vernachlässigten das Gebäck. In einer Nacht gab es Ischler, ein Kleingebäck aus zwei Teigrätchen, in der Mitte eine Kreme und reichlich mit Schokolade überzogen. Ich glaube, das einzige Kind gewesen zu sein, dass mit den Alten schmauste. Von deren Beschäftigung mit dem Flaschenleeren profitierend, räumte ich den Teller mit den Ischler ab. Ich nehme an, so um die 30 Stück verzehrt zu haben. Kategorischer Effekt: Gegen Morgen gab es zweierlei Zechbrüder, denen es schlecht wurde und die sich übergaben – jene, die das Bechermaß überschätzt hatten, also was soll’s, das Flaschenmaß, und mich, der den regionalen Rekord zumindest beim Ischlerverzehr überboten hatte. Zumindest bei mir hatte das zur Folge, dass ich mein ganzes Leben lang keine Ischler mehr sehen konnte, ohne dass mir schlecht wurde. Das ist später keinem der Alkoholzecher ähnlich widerfahren. Es war aber offenkundig, die armen Gebäckstücke hatten keinerlei Schuld an der andauernden Antipathie, die sie bei mir auslösten.

Damals offenbarte sich mir der Zynismus der Situation aber noch nicht. Das Saufgelage spielte sich, orribile dictu, in ... Poarta Albă, nomina odioso in der tragischen Geschichte des Kanals und rumänischen Gulags, ab. Ich hatte keine Ahnung, wo die Zecher sich befanden, aber später, als ich dort vorbeikam, wurde mir bewusst, dass die Zecherei sehr nahe an den Baracken stattfand, in denen die Sträflinge litten, also die politischen Häftlinge. Trotzdem kann man die Zecher nicht total für ihr Verhalten verurteilen, denn die Verleumdung der Politiker funktionierte eigentlich einwandfrei und nur Wenige glaubten, dass die „Banditen“ eigentlich keine Banditen waren. Vater war einer von ihnen, aber es nützte ihm nichts. Mutter war heiß auf Unterhaltungen und ließ sich solche Gelegenheiten nicht entgehen. Vater hingegen lachte kaum, tanzte überhaupt nicht ... und schmunzelte sich abwesend in den Bart, vielleicht mit den Gedanken an die Zeit, als er als junger Ingenieur, reich, an Restauranttischen in Kleinparis* mit einigen aus diesen unheimlichen Baracken saß.

Nach Stalins Tod begann der Kanal in weniger als einem Jahr zu wackeln: Es wurde genug Geld ausgegeben, es waren ausreichend Intellektuelle gestorben und auch Dej war der sowjetischen Unterwerfung überdrüssig geworden. Aber bevor er endgültig zusammenbrach, der Kanal, benötigte der Drache noch einige Opfer, also Sündenböcke. Auch die großen Chefs in Bukarest hatten „gehört“, dass der Kanal sich umgekehrt verhielt, dass er keinerlei Nutzen brachte, außer dem von den Sowjets erwünschten, also die alleinige und totale Beherrschung der Donau-Mündungen und vielleicht auch den Anschluss der Dobrudscha* an die große Sowjetunion, so dass Rumänien nur die Kanalzone und ein kleiner Meerzugang mit Konstanza bliebe – ein sinister anmutender Plan, der lange Zeit überlebte und vielleicht auch heute noch in einigen nostalgischen Gemütern östlich des Nistru* existiert. (Hier hatte der gottseelige Al. Căprariu*, Sendi, eine seiner Sendismen*: Sagtest du „sinister“ korrigierte er dich, dass man jetzt „siprut“* sage, wo wir doch am Nistru keine Grenze mehr hätten.)

Das mit der Sendismen-Klammer ist kein Witz, denn ich weiß von einem Onkel, „ich sage nicht wer, ein wichtiger Mann, Junggeselle“, dass in den 80ger Jahren Breschnew sich mit Schiwkows Bulgaren einigte, das „Freundland“ südlich der Donau mit dem rot-slawischen Reich zu vereinen. (Später erfuhr ich von meinem Freund Nikolaj Stoianow, Verleger in Sofia, dass die Geschichte ein Bluff Schiwkows war, um je mehr an der Brust von Mutter Russland saugen zu können.) Und dann schlug die UdSSR vor, einen Weg über die Dobrudscha zu bauen, also sozusagen einen Luftkorridor, bestehend aus einer Autobahn und einer Eisenbahnlinie, die Bulgarien und die sowjetische Moldau* verbinden sollten. Man sagt, die Geschichte wäre zu einem Ultimatum ausgeartet, so dass eine offizielle rumänische Delegation nach Moskau eingeladen wurde, um einen diesbezüglichen Vertrag zu unterschreiben. Die Beziehungen zu den Russen waren nach der Tschechoslowakei und anderen Vorfällen zerrüttet, was dazu führte, dass die Parteiführung eine offizielle Drei-Pfeifen-Delegation, von einem jungen Mann geleitet, dessen Namen ich nicht behalten habe, gescheit, aber ohne jegliche Macht, schickte. Die Rechnung von Bucurs Markt* stimmte mit der auf Moskaus Markt aber überhaupt nicht überein, wo die Sowjets die Dokumente auf den Tisch legten, klar und deutlich zur Unterschrift auffordernd oder ... Und es war nicht zum Scherzen. Die Delegationsmitglieder wussten weder ein noch aus. Wie sie das Bukarest mitteilen sollten und anderes ging ihnen durch den Kopf. Nur der Delegationsleiter, also jener Jüngling, näherte sich ruhig dem Tisch, der langsam jenem zu ähneln begann, an dem vor Jahren Molotow und Ribbentrop saßen, nahm zum Schrecken der anderen, etwas älteren Mitglieder, die sich schon am Strick hängen sahen, den Füllhalter zur Hand und sagte, statt zu unterschreiben (ich wiedergebe einigermaßen korrekt): „Einverstanden, aber unter einer Bedingung: Wir haben auch gute Freundschaftsbeziehungen zum kommunistischen China und erwarten in diesem Fall, dass Sie auch den Chinesen gestatten einen gleichen Korridor durch die Sowjetunion zu bauen.“ Es war eine Zeit brüchiger russisch-chinesischer Beziehungen, man hatte sogar einen Kriegszustand heraufbeschworen, also ... es war nicht zum Scherzen. Keiner spontanen Antwort fähig, hätten die sich überrumpelt gefühlten Russen ihren Kram zusammengepackt und sich englisch empfohlen, heißt es. Man sagt, es wäre so gewesen, obwohl über diese merkwürdigen Geschichte nie etwas geschrieben wurde; immerhin klingt sie gut ... auch als Scherz.

Also der Kanal wackelte und jemand musste für den Zusammenbruch bezahlen, denn die Bolschewiken kannten das Gefühl des schönen Scheiterns nicht wie Zorba, der Grieche. Gerüchte wussten etwas von den hierarchisch ersten zehn Köpfen des Baus und man sprach von Tod. Zu diesen Zehn gehörte auch Vater, an achter Position in der technischen Hierarchie der Generaldirektion des Kanals. Wieder war der bedauernswerte Vater in Todesnähe und konnte dabei nicht einmal mehr weiße Haare bekommen, denn seit seiner vorigen Verurteilung zum Tod war er fast ganz kahl geworden.

Diesmal hatte er Glück: aus Mitleid reduzierten Dejs rote Henker die Exekutionsrate auf fünf Köpfe. Der Prozess wurde im Blitzstil gestartet, eilig. Schnell wurden die fünf zu Hause abgeholt, unter ihnen auch ein Freund der Familie, Petre Cernătescu. Davon hörend, verlegte Mutter sich natürlich sofort aufs Weinen, war das Individuum doch eine ansehnliche und höfliche Person, mit Manieren wie alle Intellektuellen der alten Elite, jene, die nicht direkt an den Kanal kam, sondern über diesen Einstellungsweg.

Nach Jahren habe ich den ganzen Prozess in einer unzensurierten (sehr seltenen) Sammlung der Zeitung „Scânteia” gelesen, die von der Welt vergessen in der Bibliothek des Instituts für Linguistik und Literaturgeschichte in Cluj, wo ich fast 40 Jahre arbeitete, lag. In anderen Bibliotheken wurden die Sammlungen des Halborgans der PCR* ärger zensuriert als die Zeitschriften der Legionäre*. Zu jener Zeit logen die Zeitungen weniger, so dass ich mich genau des Prozesses der Angeklagten vom Kanal erinnerte, denn ich war eigentlich in dem betreffenden Saal, ich glaube es war der Festsaal der D.G.C, ein heute demoliertes Gebäude am Ovidiu-Platz, gegenüber der gewesenen Präfektur, heute das Geschichtsmuseum. Der Prozess war öffentlich und Vater bestand darauf, dass ich auch sehen soll, was dort passiert. Vielleicht war das auch eine seiner Lektionen, die mir beibringen sollten, wie man ein guter „Volksfeind“ wird. (Die Zeit wird kommen!) Vorläufig wurden die fünf Beschuldigten mit „proletarischer Wut“ zu „Volksfeinden“, Saboteuren und Werkzeugen der anglo-amerikanischen Imperialisten abgestempelt. Sie saßen demütig da und glaubten vielleicht wirklich, dass sie schuldig waren. Ich sollte dieses Gefühl schon nach einigen Jahren auf meiner eigenen Haut spüren, denn das Arbeitergericht war unerbittlich, unbarmherzig und sehr gut geführt von Spezialisten der Beschuldigungen für Nichtigkeiten. Die meisten im Saal waren sogar von der Schuld der Angeklagten überzeugt und einige schauten mit ebenso proletarischer Wut auf Vater, weil er nicht in der Anklagebox saß. Ein wenig recht hatten auch sie, denn es war klar, dass der Kanal geschlossen wird und sie ohne ausreichend gute Arbeit blieben.

Als der „Aufgebrachteste“ zeigte sich zum Schluss ein Meister, der sich in der damaligen Zeit noch durch verschiedene „Enthüllungen“ auszeichnen sollte, die ihm ohne Studium den Posten eines Generaldirektors im Ministerium für Transport und Bauten einbringen sollten, Vaters zukünftiger Chef, so ähnlich wie jener von der Baustelle Salva-Vişeu. Er war ein „anständiger“ Mensch, in Wirklichkeit gutmütig, mit einer warmen Stimme, aber wenn ihn die kommunistische Tollheit packte, wurde er zur Bestie, nichts anderes. Und so war er derjenige, der im Namen des Volkes die Todesstrafe für die fünf gefordert hat. Mutter war nicht im Saal, aber als ich ihr erzählte, was vorgefallen war, begann sie natürlich zu ... weinen. Ihre Protestmethoden hatten ja auch schon Erfolg gehabt, wie man sah. Aber diesmal war es klar: Ebenfalls in der unzensurierten „Scânteia“ habe ich die Mitteilung gelesen, dass „das Urteil vollstreckt wurde“, aber ohne Präzisierung wo, wann und wie. So beweinte Mutter den doch bedauernswerten Ingenieur Cernătescu reichlich, Vater vergoss als geiziger Mazedonier auch eine Träne, nur ich verstand nicht ganz, um was es da ging.

Nun trug sich zu, dass durch einen Zufall, nach ungefähr zwei Jahren, Vater, der in Bukarest weilte, glaubte, Wahnvorstellungen zu haben. Er ging auf einen Bürger zu, der ihm bekannt vorkam, berührte ihn zaghaft und stammelte: „Petrică, bist du es? Du lebst?“ Der Mann zuckte zusammen und bat Vater im Flüsterton, seinen Namen nicht auszusprechen. Er war wirklich am Leben, war nicht hingerichtet worden, hatte aber Zwangsaufenthalt irgendwo im Norden der Moldau und Besuchsverbot in der Hauptstadt, um nicht von seinen zahlreichen Bekannten erkannt zu werden. Ich vermutete, aber ohne Beweise, dass auch die anderen „Toten“ Gott sei’s Dank lebten.

Also, leiteten wir ab, wurde niemand erschossen und es handelte sich nur um eine Inszenierung, um den Sowjets die Mäuler zu stopfen und die „Menschen der Arbeit“ einzuschüchtern. Die Methode wurde in der kommunistischen Welt oft angewendet, es war aber nicht die Rede von Barmherzigkeit, sondern von einem psychologischen und ideologischen Instrument, das ich selber nach genau sieben Jahren am eigenen Leib spüren sollte, als ich auch mit „geregelten Akten“ in die Reihen der „Volksfeinde“ eintrat.

[Übersetzt von Anton Potche]


Worterklärungen*:
Poarta Albă = Gemeinde, 23 km von Konstanza/Constanța entfernt
Kleinparis = gemeint ist Bukarest
Dobrudscha (rum. Dobrogea) = Küstenregion am Schwarzen Meer
Nistru = rumänischer Name für den Fluss Dnjestr, einst Ostgrenze Großrumäniens
Al. Căprariu = Literaturwissenschaftler in Cluj (?)
siprut = ein Neologismus, um das Wortspiel sinister (rum: sinistru) - Nistru und siprut – Prut zu ermöglichen; Pruth (rum: Prut) = Fluss, der die heutige Grenze Rumäniens zu Moldawien bildet
Sendismen = abgeleitet vom Beinamen Sendi
Moldau = heute Moldawien; nicht zu verwechseln mit der rumänischen Region Moldau im Osten des Landes mit dem urbanen Zentrum Jassy (rum. Iaşi)
Bucurs Markt = der Legende zufolge soll Bukarest von einem Hirten namens Bucur gegründet worden sein
PCR (Partidul Comunist Român) = Rumänische Kommunistische Partei
Legionäre = rumänische, faschistische, paramilitärische Organisation

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